Eine Schule der Schwestern der heiligen Maria Magdalena Postel

Missionarin auf Zeit: Hannah berichtet wieder aus Bolivien

(Foto: privat)

Seit einem halben Jahr ist Hannah in Cochabamba, Bolivien, als Missionarin auf Zeit. Nun schickt sie uns ihren zweiten Bericht und erzählt: „Sommerferien, Weihnachten und politische Unruhen. – Ich denke, ich kann nicht behaupten, die letzten Monate seien langweilig gewesen. Mittlerweile bin ich ein halbes Jahr in Bolivien und oft fühlt es sich nicht so an, als sei die Hälfte des Jahres schon vorbei. Ich konnte bereits so viele schöne Erinnerungen sammeln, habe einiges gelernt und über Vieles nachgedacht.“

Religiöse Veranstaltungen

(Foto:privat)

Im November durfte ich viele religiöse Veranstaltungen miterleben. Einige Mädchen aus unserem Heim wurden getauft, an einem Wochenende war Erstkommunion und an einem weiteren Sonntag Firmung. An Allerheiligen waren wir morgens in der Kirche und haben nachmittags alle Häuser im Heim mit Tüchern und Gebäck dekoriert. In jedem Haus wurden verstorbene Angehörige auf Zettel geschrieben und neben ein Kreuz an die Wand geklebt. Am darauffolgenden Tag haben wir nach der Messe zusammen mit dem Pastor und einigen Mönchen im Heim in jedem Haus für die Verstorbenen gebetet. Danach bin ich mit „meinem“ Haus zum Friedhof gefahren und dort von Grab zu Grab gegangen. Vor den Gräbern saßen Angehörige der Verstorbenen mit Obst, Gebäck oder Getränken. Nachdem wir für die Verstorbenen jeweils mehrere Vater Unser und Ave Marias gebetet und gesungen hatten, wurden wir mit einigen Kleinigkeiten belohnt.

(Foto: privat)

In Bolivien wird bei Mädchen der 15. Geburtstag groß gefeiert. An einem Tag im Dezember gab es im Heim für alle Mädchen, die in diesem Jahr 15 geworden waren, eine Feier. Wir haben den Sportplatz dekoriert und es wurde für alle gekocht. Nachmittags sind die „Quinceañeras“ in Kleidern eingezogen und wir haben bis abends getanzt und gefeiert.

Sommerferien im Dezember

Akrobatik beim Fensterputzen (Foto:privat)

Anfang Dezember haben die Sommerferien angefangen. Zunächst musste das ganze Heim gesäubert werden. Wir haben zwei Wochen lang alle Häuser und Fenster geputzt, ausgemistet und aufgeräumt, Beete und Wiesen umgegraben, Unkraut gerupft oder tausende Bananen abgeladen und eingelagert. Obwohl die Arbeit sehr anstrengend war, hatten wir oft Spaß und haben viel gelacht. Als wir beispielsweise an Fenstergittern hochklettern und in über 6m Höhe die Fenster putzen mussten, hätten Außenstehende das Vorhaben auch mit einer Wasserschlacht vergleichen können.

An einem Wochenende haben wir einen Spiele-Nachmittag geplant und allen Mädchen ein Weihnachtsgeschenk überreicht. Danach durfte mehr als die Hälfte der Mädchen über die Ferien zu ihrer Familie oder zu Paten. Zurück blieben ungefähr 30 der über 80 Mädchen.

Weihnachten bei 25 Grad
Weihnachten rückte immer näher – aber ich habe es, trotz Weihnachtsmusik, Weihnachtsdekoration, dem Adventskranz in der Kirche und Vorbereitungen für das Krippenspiel an Heiligabend, nicht wirklich geschafft in Weihnachtsstimmung zu kommen. Heiligabend begann für mich wie üblich mit der Feldarbeit bei strahlendem Sonnenschein und mindestens 25°C. Ich konnte mir schlecht vorstellen, dass ich in Deutschland normalerweise zu der Zeit in warmer Kleidung im Wohnzimmer neben dem Weihnachtsbaum sitzen und Weihnachtsmusik hören würde. Für mich passte das alles nicht wirklich zusammen. Da die Familie meiner Mitfreiwilligen über Weihnachten zu Besuch gekommen ist, konnten wir beiden mit ihnen abends eine kleine Bescherung machen, nachdem wir nachmittags mit den Mädchen im Heim einige Spiele gespielt hatten. Anschließend gab es für alle zusammen Abendessen, die Mädchen haben Geschenke bekommen (Hygieneartikel, Toilettenpapier, Unterhosen und Kekse) und wir sind in die Kirche gegangen. Der Gottesdienst war anders, als ich ihn aus Deutschland kenne. Die Weihnachtsgeschichte wurde weder vorgelesen noch als Krippenspiel dargestellt.

(Foto:privat)

In den Tagen nach Weihnachten war ich einige Zeit ohne meine Mitfreiwillige im Heim. Obwohl ich allein war, wurde mir nie langweilig, da besonders die kleinen Mädchen nachmittags sehr viel mit mir machen wollten. Ich habe viel mit ihnen gespielt, getanzt, gebastelt oder einfach im Haus beim Duschen, Aufräumen, Waschen und Weiterem geholfen.

Politische Unruhen: Eine Nacht in Angst
Insgesamt waren die letzten Monate aber auch nicht immer einfach. Schon ab Anfang Oktober kündigten sich die anstehenden Präsidentschaftswahlen durch Proteste und Demonstrationen hier in Cochabamba an. Diese recht geregelten und ruhigen Proteste waren jedoch nur eine Vorstufe von dem, was noch kam.
Am 20. Oktober fanden die Präsidentschaftswahlen statt. Dieser Tag verlief erstaunlich ruhig. Nachdem das Wahlergebnis, dass Evo Morales eine vierte Amtsperiode als Präsident antreten soll, bekannt gegeben worden war, begannen bereits viele Menschen auf die Straße zu gehen, um zu protestieren. Diese forderten einen Rücktritt und Neuwahlen, weil sie der Meinung waren, dass die Wahlen nicht frei und demokratisch abgehalten, sondern manipuliert worden waren. Mittlerweile ist bekannt, dass es sich tatsächlich um einen Wahlbetrug gehandelt hat. Ab dem darauffolgenden Tag wurden nach und nach immer mehr Straßenblockaden errichtet, sodass das gesamte öffentliche Leben lahmgelegt wurde. Wir konnten das Heim aufgrund nicht vorhandener Verkehrsmittel mehrere Wochen nicht verlassen und unserer sowie der Vorrat des Heimes wurden jeden Tag kleiner. In dieser Zeit ist die Schule komplett ausgefallen, da die Lehrer durch die Blockaden nicht die Möglichkeit hatten, zur Schule zu kommen und der Schulweg für viele Schüler zu gefährlich gewesen wäre. Aufgrund dieser Umstände konnten die Schüler zeitweise nicht auf die anstehenden Examen am Ende des Schuljahres (hier im Dezember) vorbereitet werden, sodass wir für die Mädchen im Heim Probeklausuren erstellt haben.
Am 10. November ist der Präsident Evo Morales zurückgetreten und hat Asyl in Mexiko beantragt. In den ersten Tagen nach seiner Rücktrittsankündigung ist die Situation deutlich stärker eskaliert. Zwischen den sogenannten „Masistas“, den Anhängern des ehemaligen Präsidenten, sowie der Polizei und später auch dem Militär fanden erbitterte Straßenschlachten statt, bei denen es einige Tote und viele Verletzte gab. Die Streitkräfte waren zu dem Zeitpunkt auf die Seite der Opposition übergetreten und unterstützten diese, nachdem sie zuvor dem Präsidenten untergeordnet waren. Es wurden viele öffentliche Institutionen in Brand gesetzt, unter anderem Wahlbüros und Polizeigebäude. Zu Beginn der Proteste kam es vor, dass die Polizei vor bewaffneten Bürgern wegrennen musste, da sie in der Unterzahl waren. Aus diesem Grund wurde das Militär um Hilfe gebeten.
Vom 11. auf den 12. November, als der ehemalige Präsident ins Exil geflüchtet ist, erlebten meine Mitfreiwillige und ich mit den Mädchen eine Nacht, die wir nie wieder vergessen werden. Wir saßen beide, so wie jeden Abend, gemeinsam beim Abendessen und dachten uns nichts Schlimmes, als wir Sirenen und Knaller hörten, da wir bei vorherigen Protesten des Öfteren bereits Knaller gehört hatten. Plötzlich klopfte es unerwartet an der Tür. Als wir öffneten, erklärte uns panisch eins der Mädchen, dass wir alle in Gefahr seien, die Lichter ausmachen und nach draußen kommen sollten. Innerhalb von Sekunden war durch das aufgestiegene Adrenalin jede Müdigkeit verflogen. Während wir uns draußen mit zitternden Mädchen im Arm zum Beten versammelten, fragten wir uns dauerhaft, was passiert sei und noch passieren würde. Nach und nach erfuhren wir mehr: Die „Masistas“ zogen mit Molotowcocktails und Dynamit durch die Straßen. Sie drangen in Häuser ein, legten Feuer und verwüsteten vieles. Um uns herum brannte bereits einiges und es knallte mehrmals pro Minute. Nachdem unser Gelände vollständig verriegelt worden war, sollten alle in ihre Häuser zurückkehren und sich auch dort verbarrikadieren, das Licht ausmachen und leise sein. Wir sind mit einigen Mädchen zusammen in ein Haus gegangen. Dort haben sich die Kleinen unter den Betten versteckt. Es vergingen noch weitere Stunden mit großer Angst und Unsicherheit, bevor es langsam leiser wurde. Dann haben wir alle gemeinsam in einem Zimmer versucht ein wenig zu schlafen, was für uns jedoch fast unmöglich war. Eine Nacht, wie diese, geprägt von Furcht und Sorge, hatten wir zuvor zum Glück noch nie erfahren. In den darauffolgenden Tagen legte sich unsere Angst, so eine Nacht nochmal erleben zu müssen, allmählich.
Nach und nach wurden die Blockaden abgebaut. Jedoch waren noch weiterhin Landwege zu den Städten blockiert, sodass Überlandreisen unmöglich und Versorgungswege abgeschnitten waren. Demzufolge stiegen viele Lebensmittelpreise und manche Obst- und Gemüsesorten waren schwer erhältlich. Mittlerweile hat sich die Situation wieder beruhigt, die Landwege sind frei und die Straßen ruhig. Trotzdem ist viel Militär auf den Straßen unterwegs, manchmal knallt es oder wir sehen Feuer. Jedes Mal kommen die Erinnerungen in mir hoch und ich werde nervös. Ich persönlich verstehe nicht alle Zusammenhänge dieser durchaus komplizierten politischen Situation. Jedoch hoffe ich, dass es in den nächsten Wochen weiterhin ruhig bleibt und bei den Neuwahlen nicht zu einer erneuten Eskalation kommt. Keiner weiß, wie sich die Situation entwickelt, da es viele verschiedene und teils widersprüchliche Einschätzungen gibt. Aber ich mache das Beste aus der Situation und konzentriere mich auf alle schönen Momente und positiven Erfahrungen.

Ein geschenkter Tag für den Gärtner
Bei einer Unterhaltung mit der Angestellten an der Pforte, der Ehefrau des Gärtners, haben wir erfahren, wie viel der Gärtner arbeitet. Er hat im gesamten Jahr keinen Urlaubstag und arbeitet an allen Tagen der Woche von morgens bis abends im Heim. Wir konnten uns nicht vorstellen, wie es ist, 365 Tage im Jahr ohne Pause zu arbeiten. Also haben wir beschlossen, dass wir für den Gärtner arbeiten wollen, um ihm ein freies Wochenende zu ermöglichen. Das erste Wochenende wurden wir eingearbeitet. Wir haben unter anderem gelernt, wie wir neben den Meerschweinchen und Kaninchen, um die wir uns normalerweise kümmern, auch die Kühe, Schweine, Gänse, Hühner, Truthähne,… füttern müssen. An dem Wochenende danach konnte der Gärtner zuhause bleiben und sich ausruhen, während wir uns um alles gekümmert haben, was sonst seine Arbeit ist. Es hat uns beiden viel Spaß gemacht, aber wir wissen unsere Urlaubstage zu schätzen.

Mittlerweile habe ich mich hier sehr gut eingelebt. Wir haben Routinen entwickelt, die den Tag strukturieren und erleichtern.

Die Mädchen werden immer zutraulicher und anhänglicher und ich schließe sie immer mehr in mein Herz. Vor ein paar Monaten habe ich noch oft über Unterschiede zwischen Deutschland und Bolivien nachgedacht. Nach und nach wurde das jedoch immer weniger und jetzt ist vieles für mich schon fast normal.